Der letzte Tag der Atomkraft in Deutschland

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Zum Ausstieg aus der Atomkraft, am 15. April 2023, interviewt unser Landesvorsitzender Pascal Haggenmüller unsere ehemalige Karlsruher Bundestagsabgeordnete Sylvia Kotting-Uhl. Sylvia war unsere langjährige atompolitische Sprecherin der Grünen Fraktion im Bundestag, Vorsitzende des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit, Obfrau im Gorleben Untersuchungsausschuss und ordentliches Mitglied in der sogenannten Endlagerkommission.

Liebe Sylvia, fangen wir ganz vorne an: Welche Rolle spielt der Kampf gegen die Atomenergie für unsere Partei?

Eine ganz zentrale! Atomkraft ist das Technik gewordene Sinnbild für Selbstüberschätzung und Zukunftsvergessenheit. Selbstüberschätzung, weil eine Technologie, die niemals versagen darf und bei der sich der Mensch keinen Fehler leisten darf, am Ende unbeherrschbar bleibt. Zukunftsvergessenheit, weil wir mit dem für eine Million Jahre gefährlichen Atommüll in einen Zeitraum hineinreichen, den wir nicht überschauen können, nicht beurteilen und für den wir in keiner Weise Verantwortung übernehmen können. Zu unserem Gründungsauftrag „Wir haben die Erde nur von unseren Kindern geborgt“ ist die Nutzung der Atomkraft der direkte Gegensatz.

Am 15. April 2023 passiert etwas, wofür du und viele Menschen aus unserer Partei, jahrzehntelang gekämpft haben: Mit Neckarwestheim 2, Isar 2 und Emsland gehen die verbliebenen drei Atomkraftwerke in Deutschland vom Netz. Ist das ein guter Tag?

Ein lang herbei gesehnter Tag! Wir Grüne dürfen einen hart erkämpften Sieg über eine weltweit vernetzte Atomlobby und deren Einfluss auf Wirtschaft und Politik feiern. Der Kampf war härter und sehr viel länger als wir uns das mal vorgestellt hatten. Beim ersten, rot-grünen Atomausstieg dachten wir, der Konsens mit den Energiekonzernen, die schwer genug fallenden Zugeständnisse, das Entgegenkommen sie kein Geld verlieren zu lassen reichen aus. Aber es ging um viel mehr: hinter der Atomkraft steckt die Ideologie, dass Macht- und Geldkonzentration jedes Problem aus der Welt schaffen. In dem Glauben wurde – und wird – das Risiko und die weltweit ungelöste Entsorgung des hochradioaktiven Atommülls einfach ignoriert. Die Vernetzung der sogenannten friedlichen mit der militärischen Nutzung verstärkt das eigenartige Vertrauen in die Lösungskompetenz von Macht. Diese fatale Ideologie hat in jedem Land ihre politischen Anhänger*innen.
Ich bin stolz darauf, dass der grüne Teil der Ampel an dieser Stelle nicht mehr mit sich hat verhandeln lassen. Leicht war auch das sicher nicht. Der 15. April ist ein guter Tag für ganz Deutschland: ein bisschen weniger Risiko – die AKW an unseren Grenzen bleiben ja erstmal. Aber wenn es nun noch gelingt, die Energiewende endlich auf Kurs zu bringen, dann kann Deutschland für seine Nachbarn wieder zum Anschauungsobjekt werden.

Der Atomausstieg hat seine Zeit gebraucht. 2002 verabschiedete die damalige Rot-Grüne Bundesregierung die Novellierung des Atomgesetzes und leitete damit den Atomausstieg Deutschlands in die Wege. Mit dem Regierungswechsel 2010 trat jedoch eine Kehrtwende ein, die Schwarz-Gelbe Bundesregierung verlängerte die Laufzeit deutscher Atomkraftwerke, der Atomausstieg war aufgehoben. Wie hast du diese Zeit wahrgenommen und wie beurteilst du diese Entscheidungen rückblickend?

Ich habe diesen (gelb-)schwarzen Tag nicht vergessen. Hätte sich nicht ein halbes Jahr später in Fukushima das Risiko manifestiert, hätte die damalige Bundesregierung ihre Entscheidung gegen Hunderttausende auf den Straßen durchgedrückt. Alle Weichen standen damals bereits auf Energiewende, aber die Union und die FDP hatten ein Versprechen gegeben und so warfen sie Steine in die Weichen und blockierten die Energiewende für das nächste Jahrzehnt. Es war eine Entscheidung, so falsch wie etwas nur falsch sein kann. Sie kostete den Staat Milliarden, sie kostete Vertrauen in politische Entscheidungen und sie verunsicherte über Jahre die Wirtschaft, die Bevölkerung und andere Länder über Deutschlands energiepolitische Ziele.

Wir hatten lange einen gesellschaftlichen Konsens, der durch das Reaktorunglück in Fukushima 2011untermauert wurde: Wir wollen aus der Atomenergie aussteigen. Bis zum Jahreswechsel 2023 sollten alle verbliebenen Meiler vom Netz gehen. In Anbetracht des verheerenden Angriffskrieges Putins gegen die Ukraine wurden die Meiler jedoch in einer sogenannten Reserve gehalten. Manche sprechen sich sogar für Laufzeitverlängerungen aus. Ist es der richtige Zeitpunkt, jetzt endgültig einen Schlussstrich unter die Atomkraft zu setzen?

Ich würde sagen: es ist immer der richtige Zeitpunkt den Schlussstrich unter die Atomkraft zu setzen. Gerade jetzt! Mit neuen Brennelementen, den dann notwendig werdenden großen Sicherheitsüberprüfungen würde Atomstrom noch teurer. Der Konsens zur Endlagersuche, der auf dem Atomausstieg fußt, wäre aufgekündigt. Die Alternativen sind im Aufbau, der Kohleausstieg auf dem Weg. Und schauen wir uns doch einmal an, wer nach Laufzeitverlängerungen ruft. Es sind nicht die Konzerne. Es sind Politiker*innen der Parteien, die 2010 die Laufzeitverlängerungen beschlossen hatten und sie nach dem Reaktorunglück von Fukushima 2011 wieder zurücknehmen mussten. Sie leiden bis heute unter Phantomschmerzen und würden diese Niederlage zu gerne ungeschehen machen.

Werden wir also nach dem 15. April 2023 nie wieder über das Thema Atomkraft hören?

Das wäre schön! Aber das letzte Kapitel der Atomkraft ist auch in Deutschland noch nicht geschrieben. Die Suche nach dem sichersten Standort für den hochradioaktiven Müll, der Bau eines Endlagers, seine Inbetriebnahme und die Einlagerung des Atommülls bis zum Verschluss wird weit mehr Zeit in Anspruch nehmen als die Atomkraftwerke in Deutschland gelaufen sind. Und unter der Erkenntnis, dass der Klimawandel keine grüne Fiktion, sondern real ist, wittert die global agierende Atomlobby Morgenluft und preist ihre Forschungsprojekte an. Nichts davon ist frei von Risiko oder Atommüll. Kein Land der Welt hat ein in Betrieb genommenes Endlager für hochradioaktiven Atommüll. Trotzdem verfängt das Narrativ der klimarettenden Atomkraft bei Politiker*innen vieler Länder. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass Deutschland den Atomausstieg nicht noch einmal revidiert, sondern zeigt, wie Klimaschutz, Atomausstieg, Wirtschaftskraft und Lebensstandard zusammengehen.

Jetzt schauen wir nach vorne: Was kommt nach der Atomkraft? In Baden-Württemberg haben wir im Februar ein neues Klimaschutz- und Klimawandelanpassungsgesetz verabschiedet. Maßnahmen sind unter anderem die Erweiterung der Photovoltaik-Pflicht, neue Flächenziele für die Windkraft, Sektorenziele für Ministerien und vieles mehr, denn wir wissen, dass wir die Wende nur mit Erneuerbaren Energien schaffen werden. Was brauchen wir jetzt für eine klimaneutrale und resiliente Energieversorgung?

Vor allem Mut! Nicht bange machen lassen von den Ideologen der Vergangenheit. Die Zukunft heißt 100 Prozent Erneuerbare, die einzig offene Frage ist das Tempo. In diesem Fall ist schneller besser. Eine solche Transformation geht nicht ohne Verlierer ab. Aber bei allem Gejammer: wir sind ein reiches Land! Wir können uns leisten, die Verlierer des Systemwechsels aufzufangen. Lieber gezielt als mit der Gießkanne. Wir haben jetzt eine große Chance, die Transformation schnell genug und sozial gerecht anzugehen. Wir haben auf Bundesebene einen Energieminister, der die Dinge sieht, wie sie sind. Die Ampel ist allerdings kein gemachtes Bett für die Energiewende. Deshalb ist die Unterstützung auf allen Ebenen so wichtig. Grüne sind auf allen Ebenen in Verantwortung, in immer mehr Landesregierungen, immer stärker in den Gemeinderäten. Die Vorgaben für die Energiewende werden auf Bundesebene gemacht. Gelingen muss sie vor Ort!

Der Kampf um den Atomausstieg war lange und hart, doch jetzt ist er geschafft. Das zeigt, dass Beharrlichkeit und Überzeugung für eine richtige Sache, Großes bewegen können. Welchen Rat oder Tipp aus deiner langjährigen Erfahrung hast du für grüne Politiker*innen, auf kommunaler, landes- oder Bundesebene, was die anstehenden und womöglich auch langjährigen Herausforderungen Grüner Politik angeht?

Wir sind keine Karrierist*innen, sondern Überzeugungstäter*innen. Bleibt einfach grün!