Für ein modernes Wahlrecht – den Landtag zum Spiegelbild der Gesellschaft machen

Wir Grüne setzen uns für ein modernes Wahlrecht ein, das das ganze Land in den Blick nimmt: Unsere ländlichen Wahlkreise ebenso wie unsere Städte, Frauen wie Männer, Alte wie Junge, Alteingesessene wie Migrant*innen.

Wir streiten deshalb seit Jahren für eine Modernisierung des Landtagswahlrechts und haben zusammen mit der CDU im grün-schwarzen Koalitionsvertrag vereinbart: „Damit der Landtag die baden-württembergische Gesellschaft künftig in ihrer ganzen Breite besser abbildet, werden wir ein personalisiertes Verhältniswahlrecht mit einer geschlossenen Landesliste einführen.“ Der Koalitionsvertrag ist Handlungsgrundlage von Grün-Schwarz, keine unverbindliche Handlungsempfehlung. Bald feiern wir 100-jähriges Jubiläum des Frauen-Wahlrechts – darum ist JETZT genau der richtige Zeitpunkt für die strukturelle Stärkung von Frauen, jungen Menschen und Migrantinnen und Migranten in unserem Landtag. Warum ist diese Reform wichtig und sinnvoll?

1) Ein modernes Wahlrecht – wenig Änderung, viel Wirkung

Wir Grüne wollen eine Landesliste, damit der Landtag nicht überwiegend aus älteren Herren mit weißen Haaren besteht. Das ist derzeit der Fall und erschwert oftmals gute Entscheidungen, weil wichtige Stimmen und Perspektiven fehlen.
Für die Wähler*innen wird sich nicht viel ändern: Wem sie im Wahlkreis die meisten Stimmen geben, be-kommt einen Sitz im Landtag – jeder Wahlkreis wird wie bisher von einer oder einem direkt gewählten Abgeordneten im Landtag vertreten.
Auch die Aufstellung der Kandidat*innen vor Ort bleibt gleich: Sie werden vor Ort von der Parteibasis gewählt. Die Wahlversammlungen der Parteien im Wahlkreis entscheiden, wen sie in das Rennen um die Mandate schicken. Das Argument, mit einer Landesliste würden künftige Abgeordnete nur noch von Funk-tionär*innen bestellt, verfängt deshalb nicht: Niemand MUSS auf die Landesliste.

Was sich ändert: In Zukunft entscheidet eine Landesliste darüber, wer zusätzlich zu den direkt gewählten Abgeordneten in den Landtag kommt. Diese Landesliste wird von einem Landesparteitag gewählt, wie bei einer Bundestagswahl auch. Die Wahl der Landesliste gibt den Kandidat*innen die Möglichkeit, für sich und ihre landespolitischen Ziele zu werben. Das ist die Chance, neue Gesichter, mehr Diversität und damit frischen Wind für den Landtag zur Wahl zu stellen – mit Menschen, die oftmals in den männlich domi-nierten Strukturen ihrer Kreisverbände wenig Chancen auf eine Nominierung haben.

Durch das Nominierungsverfahren und die Möglichkeit auf ein Direktmandat bleibt die starke Konzentration der Abgeordneten auf den Wahlkreis also erhalten. Damit diese Verankerung aber nicht in Kirchturmdenken umschlägt, wird sie ergänzt um die landespolitische Perspektive, die ein Parteitag repräsentiert. Das entspricht den Zielen des Grundgesetzes, dass Parteien an der Willensbildung des Volkes mitwirken. Und es entspricht der Landesverfassung, nach der Abgeordnete nicht nur Vertreter*innen ihres Wahlkreises, sondern des ganzen Volkes sind. Mit einem Listenwahlrecht können wir die Realität der Gesellschaft im Parlament besser abbilden als bislang. Auch das gehört zur repräsentativen Demokratie.
Dabei ist eine Landesliste eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung, um z.B. mehr Frauen in den Landtag zu entsenden. Die Anstrengungen der Parteien, aussichtsreiche Kandidat*innen zu finden, müssen verstärkt werden, damit die verbesserten strukturellen Voraussetzungen auch wirklich Früchte tragen können. Umgekehrt gilt: Ändern wir das Wahlrecht nicht, bleibt alles, wie es seit Jahrzehnten ist. Ein weiterer Vorzug: Eine Liste macht es leichter nachvollziehbar, wer ins Parlament kommt und ist damit transparenter. Auch das Problem, dass unterschiedlich viele absolute Stimmen für ein Mandat nötig sind, wird damit behoben. Denn die bisherige Zuteilungsmethode der Zweitmandate ist kompliziert: 50 Mandate werden an Kandidat*innen vergeben, die zwar ihren Wahlkreis nicht gewonnen haben, aber im Vergleich zu anderen Wahlkreisen in einem der vier Regierungsbezirke prozentual das beste Ergebnis ihrer Partei erreicht haben („beste Verlierer“).

2) Die Rolle der Abgeordneten stärken: Den Wahlkreis im Blick, das Land im Herzen

Die rechtlichen Grundlagen des Wahlreicht sind sehr klar: „Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes“ erinnert uns die Landesverfassung in Art. 27 Abs. 3. Gleichzeitig regelt Art. 28 Abs. 1: „Die Abgeordneten werden nach einem Verfahren gewählt, das die Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbindet.“ Es ist richtig und wichtig, dass die Belange jedes Wahlkreises Gehör finden. Deshalb gibt es aus gutem Grund Direktmandate – sie werden weiterhin ein wichtiger Pfeiler des Wahlrechts sein. Gleichzeitig ist die Repräsentation der gesamten Bevölkerung derzeit nicht gegeben, darum müssen die Grundätze der Verhältniswahl durch eine Landesliste gestärkt werden. Einfach gesagt besteht ein Missverhältnis zwischen Persönlichkeits- und Verhältniswahl – und genau das kann durch eine Landesliste behoben werden.

Wer im Landtag Entscheidungen trifft, die für alle Menschen des Landes Konsequenzen haben, von dem oder der erwarten die Bürger*innen zu Recht, die politischen Belange von ganz Baden-Württemberg im Blick zu haben.

Eine Landesliste trägt dazu bei, dass Kandidat*innen vor Parteimitgliedern aus dem ganzen Land ihre Ziele und ihre politische Arbeit vorstellen und rechtfertigen müssen. Dadurch wird die poli-tische Legitimation höher als durch die alleinige Vorstellung im Wahlkreis. Landtagsabgeordnete sind oft viel im Land unterwegs, arbeiten fachlich und bringen sich in Programmdiskussionen in der Partei ein – sie müssen keine Angst davor haben, sich einer Nominierung auf einem Landesparteitag zu stellen. Auch die Wahlkreisarbeit leidet darunter nicht.
Auf den Punkt gebracht stärkt eine Landesliste also den Blick der Abgeordneten für das gesamte Land. So stärken wir den sozialen Zusammenhalt und fördern besonders das gemeinsame Verständnis für die Un-terschiede von Stadt und Land. Wenn es nach uns geht, sollen z.B. Fraktionen nur aus „Städtern“ der Vergangenheit angehören. Denn das schwächt die Interessensvertretung des Ländlichen Raums. Umgekehrt müssen auch Abgeordnete aus dem Ländlichen Raum vertraut sein mit den Debatten der Ballungsgebiete – sonst leidet die Qualität der politischen Entscheidungen.
Baden-Württemberg ist mit einem Frauenanteil von 24,5 Prozent das Schlusslicht unter den Länderparlamenten. Ohne uns Grüne sähe das noch viel trauriger aus. Von unseren Abgeordneten sind 47 Prozent weiblich. Der Frauenanteil bei der CDU liegt bei 23 Prozent, SPD, FDP und AfD bringen es gerade mal auf zehn Prozent oder weniger. Eine Liste ermöglicht es den Parteien, ihre Ziele zur gerechten Repräsentation von Frauen besser zu erreichen. Sie ist keine hinreichende, aber eine notwendige Bedingung für mehr Frauen im Parlament.

Die Arbeit, mehr Frauen für politische Ämter und Mandate zu begeistern, bleibt – sie trifft nur auf bessere Bedingungen. Wir Grüne gehen dabei mit paritätisch besetzten Listen und Ämtern seit Jahrzehnten mit gutem Beispiel voran – und es wirkt. Nirgendwo sind mehr Frauen politisch aktiv als bei uns Grünen.

Aber auch junge Menschen und Abgeordnete mit Migrationshintergrund muss man im Landtag leider mit der Lupe suchen. Mit einer Landesliste können wir ein starkes Team aufstellen, das der vielfältigen Gesellschaft in Baden-Württemberg Rechnung trägt. Sonst fühlen sich viele Menschen zu Recht nicht mehr vertreten von ihren Abgeordneten.

3) Für eine angemessene Repräsentation von Stadt und Land

Im Gegensatz zu den Behauptungen der Kritiker*innen einer Wahlrechtsreform sorgt das aktuelle Wahl-recht nicht für eine angemessene und gerechte Repräsentation von Städten und dem ländlichen Raum. Das aktuelle Wahlrecht bevorzugt Hochburgen der jeweiligen Parteien und benachteiligt sie in anderen Wahlkreisen strukturell. Und zur Wahrheit gehört: Bei uns Grünen sind es Wahlkreise in bestimmten ländlichen Regionen, in denen wir noch nie eine oder einen Abgeordneten stellen konnten und nach jetzigem Wahlrecht auch nie stellen werden. Umgekehrt kommt z.B. kein einziger CDU-Abgeordneter aus einer Großstadt – damit sind die Ausgangsbedingungen für Kandidat*innen in höchstem Maße verzerrt. Mit einer Landesliste können wir aber genau dem bewusst entgegenwirken.

4) Die Reform geht uns alle an

Wahlrechtsfragen werden traditionell überfraktionell im Landtag behandelt. Deshalb werden wir auch mit SPD und FDP in interfraktionelle Gespräche gehen. Beide haben sich in ihren Wahlprogrammen explizit für eine Wahlrechtsreform ausgesprochen. Die Frage des Wahlrechts geht beileibe nicht nur die Fraktionen an. Sie trifft den Kern unserer demokratischen Regeln in Baden-Württemberg und betrifft damit alle mündigen Bürger*innen, weil es darüber entscheidet, wie sie im Landtag vertreten werden. Deshalb arbeiten wir Grüne seit langem für diese Reform und bekräftigen gegenüber der CDU-Fraktion: Verträge sind einzuhalten.
Das Grundgesetz gibt Parteien den Auftrag, bei der politischen Willensbildung mitzuwirken. Dazu gehört es auch, Kandidat*innen für Wahlen aufzustellen. Es hat einen Grund, warum es keine parteilosen Abgeordneten gibt. Eine Zugehörigkeit zu einer Partei erhöht die Chancen, gewählt zu werden. Behandeln wir Parteitage und die Gremien von Parteien also nicht, als wären es Treffpunkte für Aussätzige. Die Arbeit in und an der Partei ist die Basis unserer liberalen Demokratie und darum sinnvoll – nicht nur im Wahlkreis und aus Machtkalkül. Bei der Landtagswahl kommt die Aufgabe der Personalrekrutierung bisher nur den Kreisverbänden zu. Es ist aber sinnvoll, auch ein Personalangebot zu machen, das landesweit legitimiert ist. Wir beschließen schließlich auch mit gutem Grund unser Landtagswahlprogramm auf einem Landesparteitag: Es stellt unsere Ziele und Projekte für das ganze Land dar. Eine Landesliste zeigt als passende Ergänzung dazu unser Personalangebot. Die starke Verankerung im Wahlkreis zu ergänzen um eine landespolitische Verankerung über eine Landesliste, stärkt eine gute Interessenvertretung für das ganze Land.
Auszug aus dem Newsletter GrueneBW – Dr. Sandra Detzer und Oliver Hildenbrand Landesvorsitzende

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